Wege (links/rechts)
Was sehen wir? Sehen wir anders, wenn wir Kunst sehen? Wie sehen wir etwas, von dem wir annehmen, es sei keine Kunst? Wann und wo fängt Kunst an, Kunst zu sein? Unter welchen Bedingungen kann sich das Sehen selbst in einen künstlerischen Prozess transformieren? Welche Räume sind für diese Vorgänge erforderlich?
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, führte ich mit zahlreichen Gruppen das Wahrnehmungsexperiment “Wege (links/rechts)” durch. Ich verabredete mich mit Teilnehmer*innen unterschiedlicher Gruppen an einem öffentlichen Ort , um mit ihnen gemeinsam zu einem nahegelegenen Arbeitsort zu gehen. Dort bat ich jede/jeden vor laufender Kamera, den gerade zurückgelegten Weg zu beschreiben. Ich ließ dabei auch längere Sequenzen des Schweigens zu. Mein Interesse lag auf der ungelenkten Wiedergabe des auf dem Weg Gesehenen. Da die Teilnehmenden in Erwartung an etwas gänzlich anderes ankamen und vorher nicht wussten, um was es ging, waren sie im ersten Moment überrascht, nun selbst im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen und aktiv einen Beitrag zu leisten. Damit verkehrt sich der Blick: Die Betrachter*in betrachtete sich selbst.
Wo war da die Kunst? Eine Antwort auf diese Frage gab der spätere Zusammenschnitt des Filmmaterials: Zum einen entstand durch die Beschreibung (aus der Erinnerung heraus) des individuellen, augenblickhaften Seherlebnisses etwas Neues. Es transformierte sich zu einem – durch die filmische Aufzeichnung – sichtbaren künstlerischen Prozess. Andererseits gab die Zusammenschau aller subjektiven Wegbeschreibungen den Blick auf sehr unterschiedliche, ja gegensätzliche Wahrnehmungen frei, die sich auf die selben Objekte bezogen.
In einem weiteren Schritt stellte ich aus den gesamten aufgezeichneten Beobachtungen unterschiedlicher Gruppen Sequenzen zusammen, die sich auf ein bestimmtes Gebäude oder einen spezifischen Ort oder eine bestimmte Person bezogen. Interessant an dieser dokumentarischen „Auslese“ konnte sich dann die Vielfalt der gestischen Ausdrucksformen gestalten, mit denen die Teilnehmer*innen das Gesehene und Erfahrene beschrieben. So konnte auch verfolgt werden, dass „der Bewegungsakt zugleich ein Akt des Denkens ist, und der Gedanke zugleich eine räumliche Aktion.“ * Die Verbindung von Sehen und Denken, von Bewegung, Körper und Raum wurde sichtbar.
* Vjacelav Vsevolodovic Ivanov, Gerade und Ungerade. Die Asymmetrie des Gehirns und der Zeichensysteme, Stuttgart 1983, S. 79 ff. Ivanov bezieht sich auf den amerikanischen Ethnologen Cushing („Manual concepts“, 1892) und auf Sergej Eisenstein, deren beider Experimente um das Thema „mit den Händen denken“ kreisen.